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Präsentation

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Дель Брюкер знакомое лицо19.09.06 23:06
Дель Брюкер
19.09.06 23:06 
Последний раз изменено 20.09.06 08:53 (Дель Брюкер)
Die frischangekommenen Ausländer-Akademiker mittleren Alters sollten zunächst einen 6-monatigen Sprachkurs absolvieren, dann ihre Deutschkenntnisse durch ein Praktikum befestigen, dann unter Umständen an einem fachorientierten Fortbildungskurs teilnehmen, dann ... nach einem eingehenden Bewerbungstraining ihre erste Bewerbung nach allen Regeln der Kunst schreiben. Schwächen sollte man darin als Stärken darstellen, echte Stärken (sofern es welche gab) - besonders hervorheben. Denn die Hauptregel sei immer die gleiche: Man muss sich gut verkaufen!
So schlecht war diese Vorgehensweise nicht. Vorausgesetzt, man war 25 Jahre alt, hatte eine 10-jährige Berufserfahrung und beherrschte die deutsche Sprache hinreichend. Bei nicht vielen eingereisten Akademikern, die in der Regel über 45 Jahre alt gewesen waren, wurden alle diesen Voraussetzungen erfüllt. Mein Vater war schon 55, als wir ankamen. In Moskau war er Physiker und verwendete Laser zur Früherkennung von Krebs. Deutsch kannte er gar nicht. Englisch kannte er nur in Schrift. Er stellte sofort klar, dass das Erlernen einer fremden Sprache in dem Alter nicht so schnell gehe. Aber er wollte seine Forschungsarbeit unbedingt fortsetzen. Und je früher desto besser. Denn intuitiv vermutete er, dass 56 oder 57 nicht besser als 55 sei.
Am ersten Sonntag nach unserer Ankunft im Wohnheim auf der Arndtstrasse in Köln erwarb mein Vater auf dem Trödelmarkt eine elektrische Schreibmaschine. Er stellte sie auf den Tisch in unserem Zimmer und fing sein Werk an. Unser Zimmer im Wohnheim hatte eine zentrale Lage: Es war von den benachbarten Zimmern anderer Heimbewohner von links und rechts durch Kleiderschränke getrennt. Nach kurzer Zeit mussten unsere Nachbarn daran gewönnen, unter charakteristischen Geräuschen der elektrischen Schreibmaschine einzuschlafen. Unser Zimmer und unser Tisch wurde zum Arbeitszimmer und Arbeitstisch meines Vaters erklärt. Obwohl dieses Arbeitszimmer ab und zu von den weiteren Familienangehörigen wegen Essen, Schlafen etc. zweckentfremdet wurde, hätte das Finanzamt unter Umständen keine Bedenken gehabt, die Arbeitszimmerkosten steuerlich zu berücksichtigen: Auf den Kleiderschränken von oben bis unten waren Musterbewerbungen aufgehängt, auf dem Tisch links lag ein dickes Grammatikbuch, rechts lag ein riesengroßes deutsch-russisches Wörterbuch und in der Mitte stand diese verdammte Schreibmaschine, mit der mein Vater seine Initiativbewerbungen von morgens bis abends tippte.
Die Bewerbungen verließen das Heim in Scharen. Manchmal kamen auch Antworten. Zunächst selten, dann immer öfter. Das führte ich auf die immer geringere Anzahl an Schreibfehlern in den Verfassungen meines Vaters zurück. Bald hätte er eine ganz ordentliche Bewerbung inkl. Lebenslauf und Qualifikationsprofil mit geschlossenen Augen erstellen können, falls er gegen 3 Uhr nachts geweckt worden wäre.
Irgendwann musste es aber passieren. Wie eine Zeitbombe kam nach zwei Monaten dieser Bemühungen ein Schreiben aus Jülich an. In diesem lud ein Herr Prof. Dr. Schneeweiß meinen Vater in sein Institut ein, damit er in Rahmen einer 40-minutigen Präsentation die Mitarbeiter des Instituts über seine Arbeit näher informieren könnte. Ich schlug meinem Vater vor, dass er eine höfliche Absage schreibt. Er erwiderte: "Was hast du gegen diese Präsentation?" Dann ging es los...
Nach Vaters Zusage teilte ihm Dr. Schneeweiß in einem weiteren Schreiben den genauen Präsentationstermin mit. Ich hatte herausgerechnet, dass ihm zur Vorbereitung 16 Tage, 7 Stunden und 15 Minuten noch zur Verfügung stand. Ca. 1 Minute lang schauten wir uns in die Augen. Dann fing die Arbeit an. Die besten Experten unseres Wohnheims in Sachen Deutsch, die schon den dritten Monat ihren Sprachkurs besuchten, wurden in die Vorbereitung der Präsentation intensiv involviert. Sie übersetzten den russischen Text, den ihnen mein Vater auf unzähligen Blättern in kurzen Zeitabständen reichte, in die deutsche Sprache. Ich weiß jetzt nicht mehr, was dabei das kleinere Übel war: Die miese Handschrift meines Vaters oder die Tatsache, dass die Übersetzer, inklusive mich, fast kein Wort inhaltlich verstehen konnten, obwohl sie alle in Russland ein Studium in diversen technischen Universitäten hinter sich gehabt hatten. Daher pflegte mein Vater besonders substanzreiche Textblöcke selbst auf deutsch zu verfassen. Sein kürzester Satz beinhaltete 62 Worte und hatte einen Hauptsatz und 3 Nebensätze - das hatte ich auch herausgerechnet.
Endlich (gerade am letzten Tag vor der Präsentation) waren die letzten Korrekturen gelesen, der Text des Vortrages wurde mehr oder weniger sauber mit der elektrischen Schreibmaschine abgetippt. Bunte Folien, die im Arbeitszimmer überall zu sehen waren, versetzten mich in eine weihnachtliche Stimmung, obwohl es erst August angebrochen war. Die ihm noch verbliebene Nacht vor dem Auftritt nutzte mein Vater, um die wichtigsten Passagen aus seinem Vortrag auswendig zu lernen.
Am nächsten Tag, genau 20 Minuten vor dem Präsentationsbeginn, standen wir (mein Vater und ich) vor den Pforten des Forschungszentrums in Jülich. Ich erinnere mich noch, wie ein Wachmann sich von seinem Sessel anhob und uns zuwandte. Das Büro des Wachmanns machte einen beruhigenden Eindruck: Leichte Musik, ein großes Kalender mit der Zugspitze von Garmisch-Partenkirchen hinter an der Wand. Es wäre tödlich gewesen, diesen sicheren Hafen zu verlassen, aber mein Vater tat die erste nötige Schritt dazu. "Guten Tag", - sagte er schwach - "Eh ... Schnee ... weiß" und machte eine vage Handbewegung. Die Augenbrauen des Wachmanns hoben sich, aber nur ganz wenig. Dann hellte sein Gesicht auf, er drehte sich um, zeigte auf die Zugspitze mit der Hand, drehte sich wieder um, lächelte uns wie Kleinkindern und erwiderte: "Ja-ja, der Schnee ist weiß! ".
Aber mehr war aus ihm zunächst nicht herauszukitzeln. Als wir die Pforte passieren wollten, stand er uns auf den Weg. Die Worte wie "Vortrag" und "Präsentation" mit viel Mimik und Gestikulation brachten auch nicht viel. Er musterte uns mit seinen hellblauen Augen und ließ uns einfach nicht durch. In einem Moment holte ich den Brief von Dr. Schneeweiß, die Mappe mit Vaters Vortrag und seinen Pass aus unserem Aktenkoffer. Ich legte das ganze Zeug auf den Aktenkoffer und hielt dies dem Wachmann vor die Augen. Das führte schon zu einem Gespräch mit Weichenstellen und Tendenzen in die richtige Richtung. Der Wachmann hatte kurz telefoniert. Nach einer Weile kam ein älterer Inder und führte uns durch einen langen Gang in den Konferenzraum, ohne ein Wort zu verlieren.
Im Konferenzraum warteten bereits rund um 30 Mitarbeitern des Instituts. Dr. Schneeweiß, ein hagerer Mann mit lebendigen Augen, stellte meinen Vater seinen Kollegen kurz vor. Nach seiner Bemerkung, dass sich mein Vater erst 3 Monate in Deutschland aufhielt, fragte er ihn freundlich, ob der Vortrag auf deutsch oder englisch gehalten werde. "Deutsch - ja, englisch - no", erwiderte mein Vater. Dann legte er die erste Folie auf den Projektor, nahm den 20-seitigen Vortragstext in die Hand und fing das Vorlesen des Textes mit einer stockenden Stimme an...
Als Reaktion auf seine ersten Lauten, war ein tiefes Seufzen aus allen Ecken des Konferenzraums zu hören. Es schien so, als ob sich verwundete lebendige Wesen in den Räumlichkeiten des Instituts befänden, die jammernd und hoffnungslos atmeten. Die Aussprache und die riesengroßen Sätze meines Vaters erstickten im Keim jegliche Hoffnung, ihn akustisch zu verstehen. Die einzige Ausnahme war ich, da ich den Vortrag bereits fast so gut wie mein Vater kannte. Aber ich konnte die weiteren Zuhörer nur geistig unterstützen.
Genau nach 40 Minuten, die ich als 40 Jahre wahrnahm, war alles vorbei. Eine kosmische Stille beherrschte plötzlich den Raum. Dann hörte ich seltenes aber lautes Klopfen, das ganz bestimmt von einer Person stammte. Ich drehte mich um. Es war der Inder. Weitere Klopfen, zunächst vereinzelt, dann wie ein Trommelfeuer, füllten den Raum...
Nach wenigen Monaten wurde mein Vater in die Uni-Klinik in Köln als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingestellt. Ich weiß nicht, ob diese Präsentation dabei eine Rolle spielte. Nach 9 Jahren Arbeit in einem deutschen Team spricht er deutsch immer noch stockend. Sollte aber jemand von seinen deutschen Kollegen einen Artikel schreiben, ist mein Vater derjenige, der die Korrektur liest. Die damalige Präsentation sieht er als seine größte Aventüre in Deutschland an, so was würde er nie mehr machen. Aber wer weiß...
#1 
gadacz Нободы ис перфецт20.09.06 07:23
gadacz
NEW 20.09.06 07:23 
в ответ Дель Брюкер 19.09.06 23:06, Последний раз изменено 20.09.06 08:16 (gadacz)
Ich bewundere immer wieder die detailreiche und präzise Beschreibung. Wieder ein Meisterstück!
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#2 
  delphy коренной житель20.09.06 07:43
NEW 20.09.06 07:43 
в ответ gadacz 20.09.06 07:23
Und ich bewundere den Stil, den Wortschatz und Lust soooooooooooooooooo viel und informativ zu schreiben
#3 
gadacz Нободы ис перфецт20.09.06 11:27
gadacz
NEW 20.09.06 11:27 
в ответ delphy 20.09.06 07:43
"Perlen vor die Säue werfen" NEIN- mein Gott so meine ich es nicht! (bitte beim Zitieren KOMPLETT verwenden!)
Aber was bewegt das hier? Eine nahezu "geschlossene Gesellschaft", die sich in den Texten wiederfindet.
Klar, da bewegt sich etwas: die Stirn wird gerunzelt und ein zustimmendes Kopfnicken.
Viele kennen ähnliche Situationen, haben es auch so erlebt. Man stimmt zu und ... ?
Doch solche Texte gehören auf die Strasse! (Aha, hier kann man wieder ein Missverständnis konstruieren)
Nein, das sollte die Deutschen interessieren, die breite Masse. Schade, das passt selten in das gewohnte Konzept, denn dann könnten so viele gegen-Argumente zerbröseln.
Aber in der Politik gibt es ein brandheißes Thema: "Integration". Also ab damit an die Entscheidungsträger, damit sie wissen, über was sie debattieren.
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#4 
Дель Брюкер знакомое лицо20.09.06 11:38
Дель Брюкер
NEW 20.09.06 11:38 
в ответ gadacz 20.09.06 11:27
Danke für nette Worte! Aber glaubst du wirklich, dass dies von einem Entscheidungsträger bzw. "auf der Strasse" debatiert werden kann? Das ist nicht etwas, was heutzutage den Wählern gut verkauft werden kann. Welcher Entscheidungsträger hätte einen Nutzen davon?
#5 
gadacz Нободы ис перфецт20.09.06 12:17
gadacz
NEW 20.09.06 12:17 
в ответ Дель Брюкер 20.09.06 11:38
Das ist ja genau das Problem. Diejenigen, die darüber debattieren und polemisieren haben kaum Interesse an der Realität. Da kommt ja das Weltbild durcheinander.
Die Entscheidungsträger sehen lieber in die Statistiken und zählen Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Integrationskosten, Kriminalität zusammen und betrachten den Volkswirtschaftlichen Nutzen auf der anderen Seite. Da kann die Bilanz nicht aufgehen!
Eine Republik, die das Lied der Menschenrechte laut trällert, aber nicht die Noten kann. Schändlich!
Schon die Beschaffung eines Visums bei der Botschaft in Moskau ist praktizierte Diskriminierung. Aber lassen wir Moskau aus, auch ich bekomme das Visum für Russland nicht hinterher geschmissen. Nehmen wir Kiew, die gleiche Prozedur. Ich kann mich morgen in den Zug setzen und spontan in die Ukraine reisen. Zufall, dass man nach dem Song Contest "vergessen" hat, die Ausnahmeregelung wieder aufzugeben.
Aber warum das blöde Visum? Die enormen Verwaltungskosten können auch durch die üppigen Gebühren nicht gedeckt werden. Nein, man will die Gäste nicht! Das ist Abwehr und ein Verstoß gegen elementare Menschenrechte.
Aber schon
Art. 11 GG (1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet ist eine Schande. Warum nur Deutsche, warum nicht Menschen? Vermutlich werde ich jetzt Terroristen und Verfassungsfeinden gleichgestellt. Ganz eindeutig: Diesen Artikel lehne ich mit dieser Aussage ab!
Illegale Zuwanderung? Dagegen gibt es ein probates Mittel: Man legalisiert sie! Man muss andere Wege gehen, die Zuwanderung zu steuern. Die Kriminellen finden auch bei der bestehenden Regelung Schlupflöcher und nutzen sie. Die Anständigen werden vergrault, ausgesperrt. Zum Schluss überwiegen die Banditen und Statistiken reden von der hohen Kriminalitätsrate der Ausländer in Deutschland. Die einschlägige Presse macht daraus die Schlagzeilen und die dumpfe Masse badet in Vorurteilen.
Ich habe keine Furcht, dass bei Grenzöffnung 145 Millionen Russen vor meiner Haustür stehen. Dann müsste auch inzwischen Polen leer sein.
Das wird hier kein Problem, sondern im Heimatland. Da werden sich die unterbezahlten Qualifizierten auf den Weg machen. Die fehlen dann dort und da muss sich der Staat Gedanken machen, wie die Bedingungen zu verändern sind, damit die Wanderung gebremst wird. Wer dann hier keine Arbeit findet, wird bald wieder in die Heimat gehen. Das würden sicherlich jetzt auch schon etliche gerne machen. Doch die Prozedur hier alle passenden Stempel zu bekommen war so aufwändig, dass man das Ergebnis nicht ohne Not aufgibt.
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#6 
Дель Брюкер знакомое лицо20.09.06 13:02
Дель Брюкер
NEW 20.09.06 13:02 
в ответ gadacz 20.09.06 12:17
Zum Bild: In unserem Heimatland (Russland) regiert das Pipeline. Es wird von einer kleinen Personengruppe bedient. Die "unterbezahlten Qualifizierten" wandern aus (die wenigen) bzw. degradieren (die meisten). Hätte Deutschland keine Hemmungen (SPD-Mentalität) gehabt, bei der Einwanderung das australische oder kanadische Punktensystem einzuführen (es geht natürlich nicht um Emigration nur aus Russland), so hätte es wahrscheinlich ein zweites Wirtschaftswunder erlebt. Aber es ist noch weit davon entfernt... Denk nur an die "rasante" Geschwindigkeit des Fortschreitens der Gesundheitsreform. Im Endeffekt (2007) kommt man vielleicht auf das Schweizer Modell, das die Schweizer selbst schon jetzt als eher schlecht ansehen... Vielleicht ist die Entscheidungsimpotenz eine Kehrseite der modernen westlichen Demokratie, ihr Markenzeichen. Aber dafür gewinnt das Wort "Abendland" (hier - und in Westeuropa insgesamt) immer mehr an Bedeutung... Vielleicht ist es auch gut (im Sinne "natürlich") so, denn Rom kann nicht ewig sein...
#7