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Tausendfüssler

04.10.06 21:45
Tausendfüssler
 
Дель Брюкер знакомое лицо
Дель Брюкер
Последний раз изменено 05.10.06 14:38 (Дель Брюкер)
Ich saß in der Halle des Flughafens Köln-Bonn. Der Flieger mit meinem Freund aus Moskau, der nach Köln zur jährlichen Fahrradmesse kommen sollte, war bereits in Anflug. Es war Morgengrauen; außer mir saßen in der Halle nur noch ein paar Menschen herum. Ein magerer Türke in Uniform staubte den Kachelfußboden mit abwesendem Blick ab.
Ein älterer stämmiger Deutscher mit rötlichem Gesicht, der neben mir saß, schlug eine Boulevardzeitung auf. Argwöhnisch musterte er den Leitartikel mit dem Titel "Rente vom Staat führt in die Armut". In der Mitte des Artikels war eine Alterspyramide aufgeführt. Sie ähnelte eher einem hässlichen fetten Tausendfüssler als dem schönen Weihnachtsbaum aus den Zeiten von Ludwig Erhard. Dies schien das Rotgesicht sichtbar zu irritieren.
Ich selber hatte weder Zeitung noch Buch mit. Daher schaute ich aus Langeweile ab und zu in die Zeitung meines Nachbarn rein. Auf einer Seite erblickte ich einen Kurzbericht zum gestrigen Urteil des Oberlandesgerichts in Düsseldorf. Danach sollten 26 angebliche Russlanddeutsche, die ins Land eingereist waren aber ihre deutsche Herkunft nicht wie gefordert nachweisen konnten, abgeschoben werden. Ich erinnerte mich, dass ich vor 3-4 Monate über diesen Fall in der russischsprachigen Presse gelesen hatte. Es müsste sich wohl um eine 27-köpfige Spätaussiedlerfamilie handeln, die nach Deutschland aus Kasachstan mit einem Bus kam. Als der Bus über Polen fuhr, starb die Oma. Man hätte aber diese Oma den deutschen Behörden unbedingt lebend vorweisen sollen. Denn sie war die einzige in der Familie, die gerade noch zu soviel Prozent deutsch war, was das Amt als die untere zulässige Grenze ansah. Die restlichen 26 Familienmitglieder waren weniger deutsch. Die tote Oma zählte nicht mehr. Unglücklicherweise hatte die Familie vor der Abreise all ihr Gut und Hab in Kasachstan verkauft und stand nun vor der Tür in einem Aufnahmelager in NRW. Das Gericht musste entscheiden, wie es weiter läuft. So was ungefähr stand damals in einer russischsprachigen Zeitung. Und jetzt schien das rechtskräftige Gerichtsurteil gefallen zu sein.
Was an einem Rechtsstaat gut ist, dass das Recht immer siegt. Nicht das Gute das Böse oder die Vernunft den Unsinn, weil dies zu subjektiv wäre, sondern das Recht das Unrecht. Und es ist gut so.
Kaum mein Nachbar die Zeitung zu Ende gelesen und zur Seite gelegt hatte, hielt ein Polizeibus vor dem Eingang in die Flughafenhalle auf. Die Tür zur Halle ging auf und mehrere Leute füllten plötzlich den fast leeren Raum. Ich sah breite Bauerngesichter und kräftige Arbeiterhände erwachsener Männer und Frauen, mehrere Kinder mit schlecht gekämmten Haar, ein paar ältere Frauen mit Goldzähnen. Das Groß war unter 30; sie trugen in den Händen alte Reisetaschen mit kaputten Reißverschlüssen und schoben staubige mit Scotch überklebten Kartons mit ihren Füssen vor sich hin. Acht Polizisten begleiteten sie.
Scheinbar mussten sie eine Etage höher, zum Abflug, weil sie für eine ganze Weile den Aufzug belegten. Drei Polizisten blieben unten, drei kamen nach oben. Zwei Beamte postierten sich im Aufzug. Die Wartenschlange der Reisenden vor dem Aufzug wurde langsam kürzer. Auf den braunen Gesichtern von den Erwachsenen und Kindern war keine Erregung wegen der anstehenden Reise zu erkennen. Vielmehr Müdigkeit und Gleichgültigkeit.
Als sie alle weg waren, schaute ich zu meinem stämmigen Nachbarn kurz hin. Er schlief mit halboffenem Mund und schnarchte. Die Zeitung lag zusammengefaltet auf seinen Knien. Jetzt konnte ich mir den Tausendfüssler etwas genauer ansehen. Ich bekam das Gefühl, dass dieser noch hässlicher würde.
 

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