Deutsch
Germany.ruФорумы → Архив Досок→ Die Brücke

Mienenspiel

195  
Дель Брюкер знакомое лицо15.09.06 19:57
Дель Брюкер
15.09.06 19:57 
Das Wohnheim auf der Arndtstrasse in Köln-Weiden, in dem ich mich einige Monate aufhielt, befand sich in einer vornehmen Gegend. Rechtsanwälte und Zahnärzte sahen aufs Heim über dreifache Verglasung ihrer Wohnzimmern in freistehenden Einfamilienhäusern. In dem Heim lebten um 20 frisch eingewanderte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen UdSSR. Auf der asphaltierten Fläche vor dem Heim weilten ein paar schrottreife Autos.
Neben dem Haupteingang stand ein Dutzend Fahrräder diverser Qualität, die die Hausmeisterin aus einem unerfindlichen Grund in regelmäßigen Zeitabständen in den Keller verschwinden ließ. Nach einiger Zeit sammelten sich die Fahrräder vor dem Heimeingang wieder an.
Nach einem harten Tag (Sprachkurse etc.) pflegten die Heimbewohner den Sonnenuntergang auf einer Bank vor dem Eingang zu genießen. Zu dieser Zeit begaben sich die Rechtsanwälte und Zahnärzte in ihre Häuser auf der anderen Seite der Arndtstrasse. Warfen sie einen Blick in die Richtung des Wohnheimes, so verriet ihre Mimik entweder tiefes inneres Leiden oder Freude.
Die Leichenbittermienen der vorbeimarschierenden Anwohner hatten unsere Pessimisten zunächst auf den vermeintlichen Ausländerhass zurückgeführt. Aber die Optimisten nahmen ihnen den Wind aus den Segeln. Denn sie stellten fest, dass freudige oder traurige Gesichter oft denselben Personen gehörten. Die Pessimisten konnten sich ein wenig beruhigen. Das Phänomen wurde dadurch keinesfalls verständlicher.
Unsere damaligen Deutschkenntnisse waren definitiv ungeeignet, um unsere Neugierde durch direkte Kontaktaufnahme mit den auffälligen Passanten zu befriedigen. (Den skeptischen Leser verweise ich auf die Geschichte "Plusquamperfekt"). Auf jeden Fall kam niemand auf die Idee, die Leute mit einschlägigen Fragen recht intimer Natur zu belästigen. Es blieb uns nichts anders übrig, als diese Aufgabe durch den Einsatz von Logik zu lösen.
Da ich ein Fan von Arthur Conan Doyle bin, entschied ich mich für ein deduktives Verfahren. Da ich mir sowieso fast jeden Tag die Sonnendusche an der Bank vor dem Heim gönnte, befasste ich mich mit der Zeitreihenanalyse des besagten Mienenspiels. Ich denke, dass Sherlock Holmes, durch Dr. Watson bestärkt, eine weniger zeitaufwendige Methode mit mehr Action vorgezogen hätte. Aber ich fühlte mich spät nachmittags durch den 8-stündigen Deutschkurs geistig und physisch geschwächt.
Zunächst stellten sich drei Besonderheiten des Mienenspiels heraus: Seine Tiefen und Höhen hatten Wochentakt (donnerstags wurden sie besonders stark ausgeprägt); ca. jeden Monat setzte das Mienenspiel für einige Tage bis zum nächstfolgenden Donnerstag aus; die Blicke der Anwohner richteten sich zunächst auf die Fahrräder neben dem Heimeingang - erst dann verrieten ihre Gesichte Seligkeit oder Bekümmertheit.
Als mir auffiel, dass das Aussetzen des Mienenspiels nicht Mondphasen, sondern dem Verschwinden der Fahrräder im Keller zeitlich entsprach, wurde mir die Lösung plötzlich klar. Damit sie auch dem gnädigen Leser offenbar wird, muss ich ein wenig ausholen.
Donnerstags wurde von den Haushalten in Weiden Sperrmüll entsorgt. An diesen Tagen spät nachmittags rückten die Heimbewohner vor. Wie hungrige Tiger bewegten sie sich über die Gassen von Weiden, um einen Fernseher mit nicht abgeschnittenem Stromkabel zu orten.
Es ist allgemein bekannt, dass die mehr oder weniger abgenutzten Fahrräder auch zum Sperrmüll gehören. Deren Entsorgung erfolgt in der Regel in mobilem (nicht angeschlossenen) Zustand. Oft waren sie im entsorgten Müll zu finden, zwischen einem Kühlschrank ohne Tür und einer verrosteten Waschmaschine. Aber nicht immer! Was spricht eigentlich dagegen, dass ein Fahrrad quasi gesondert (ohne sonstigen Müll) entsorgt werden kann? Die sich mit diesem Phänomen befassende Theorie wurde zur Entdeckung des Jahrhunderts. Angeschlossenen Fahrrädern schenkten die meisten von uns sowieso keine Beachtung. Sollte aber ein älteres fahrtüchtiges Fahrrad donnerstags nachmittags an einer von Gott verlassenen Ecke Weidens herrenlos rumstehen, so nahm es der stolze Finder unter seine Obhut.
Aber diese Theorie war auch kein Evangelium. Sie wollte schöpferisch entwickelt werden. In ihre Weiterentwicklung hatten die Erfinder echte Energie hineingesteckt. Unter anderem wurden die folgenden Fragen eingehend eruiert. Musste ein weggeschmissenes Rad unbedingt an einer dunklen Straßenseite verrosten, wo unsere Zivilisation keine sichtbare Spuren hinerlassen hatte? Wenn ein Rad direkt vor einer Kneipe oder Boutique abgestellt wurde, war das ein klarer Fall - dessen Besitzer hatte es nicht im Stich gelassen. Wie sollte man aber die Situation einstufen, wenn die besagte Entfernung mehr als 10 Meter betragen sollte? Musste eigentlich ein sperrgutreifes Fahrrad älter als der Kölner Dom aussehen?
Auf jeden Fall hatte ein einfallsreiches Umgehen mit diesen Fragen dazu geführt, dass noch ganz adrette Räder in weitem Umkreis entschieden als Sperrmüll deklariert und abgeholt wurden. Man hielt auch Maß. Niemand hatte das 5000 DM-teuere mit brandneuen Rahmen aus Magnesium ausgestattete Rad, das ein Rechtsanwalt vor seinem Haus auch donnerstags für ein Paar Minuten unangekettet ließ, angefasst.
Trotzdem mussten einige Anwohner ab und zu beobachten, dass sich ihre mehr oder wenige ältere Räder vor unserem Heim ansammelten. Deshalb waren ihre Gesichter betrübt. Diejenigen, die ihre Fahrräder in unserer Ansammlung nicht sahen, konnten sich freuen. Denn sie wussten, dass sie eine erhöhte Chance haben, ihre Räder noch vor ihren Häusern vorzufinden.
Manchmal setzte ein oder anderer der Sperrmüllaffäre zum Opfer gefallene Anwohner unsere Hausmeisterin in Kenntnis über seinen Kummer. Diese konnte ihn aber davon nicht auf der Stelle erlösen, da die meisten Heimbewohner außer Haus waren (Deutschkursbesuch!) und die herumstehenden Räder angekettet waren. Gegen 13 Uhr war die Schicht der Hausmeisterin zu Ende und sie ging nach Hause, während wir uns noch mit dem Akkusativ und Genitiv tief in der Stadt herumplagten. Diese Geschichte wiederholte sich fast täglich und im Schnitt dauerte es ca. einen Monat bis die Hausmeisterin ihre Geduld verlor. Dann steckte sie die Räder als einzig wahre Friedensstörer in den Keller, was auf die deprimierten Anwohner irgendwie heilend wirkte. Erfahrungsgemäß bis zum nächsten Donnerstag...
Seit dieser Zeit sind schon über 10 Jahre vergangen. Ich wohne jetzt in einem ruhigen Stadtteil von Köln. Links von uns wohnt ein Zahnarzt, in dem Haus gegenüber √ ein Rechtsanwalt. Alle haben Fahrräder, die man normalerweise vor die Haustür stellt. Manchmal stellt man ein Rad nicht direkt vor der Haustür, sondern in einer Entfernung von über 10 Meter. Manchmal vergisst auch jemand, sein Rad anzuketten. Und wenn uns plötzlich eins fehlt, sage ich immer: └Keine Bange, Leute, nur keine Bange... Vielleicht ist es nicht so weit weg...⌠. Denn in der näheren Umgebung gibt es seit kurzem ein Wohnheim.
#1 
aelita2002 постоялец16.09.06 14:26
aelita2002
NEW 16.09.06 14:26 
в ответ Дель Брюкер 15.09.06 19:57
Gut geschrieben . Schade nur, dass Sie ihre Protagonisten nicht mögen.
#2 
Дель Брюкер знакомое лицо16.09.06 18:48
Дель Брюкер
NEW 16.09.06 18:48 
в ответ aelita2002 16.09.06 14:26
Ich mag sie, aber ich verrate das nicht...
#3 
gadacz Нободы ис перфецт16.09.06 19:28
gadacz
NEW 16.09.06 19:28 
в ответ Дель Брюкер 15.09.06 19:57, Последний раз изменено 17.09.06 10:36 (gadacz)
Einfach Spitzenklasse. Ab zum nächsten Verlag!
In Berlin hatte ich früher einen Nachbarn. Der konnte nur Kleinwagen bis 250 ccm mit seinem Führerschein fahren. So hatte er eine Isetta.

Aber auch damit konnte er nur schlecht fahren und trotz der geringen Ausmaße nie ordentlich einparken.
So stand sie mal wieder halb schräg auf dem Gehweg.
Sperrmüll war angesagt und neben der "Asphaltblase" sammelte sich ein Haufen Müll.
Dann kam der Abfuhrwagen mit der hydraulischen Presse am Heck.
Die schmissen alles in das große, gefräßige Maul. Trennung und Sondermüll kannte man damals noch nicht.
Dann 3 Mann, kräftiger Griff und die Isetta war drin.
Ich Stand neugierig auf dem Balkon, mein Nachbar auch.
Er schrei wie verrückt und ich lachte mich kaputt.
Krachend zermalmte das Ungetüm seinen kleinen Stolz.
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#4 
Дель Брюкер знакомое лицо16.09.06 20:00
Дель Брюкер
NEW 16.09.06 20:00 
в ответ gadacz 16.09.06 19:28
Mein Gott! Noch daramatischer wäre nur die finale Szene des Films "Es war einmal in Amerika"...
#5 
gadacz Нободы ис перфецт16.09.06 20:08
gadacz
NEW 16.09.06 20:08 
в ответ Дель Брюкер 16.09.06 20:00
Nun, seine Isetta war nicht so dekorativ. Bei seinen Ausfahrten nahm er gerne mal Ecken und Kanten mit.
Die Aktion war ein Segen für den Strassenverkehr in Berlin. Da war er eine rollende Barriere und selbst damals gabe es, trotz geringer fahrzeugdichte, schon Stau -- hinter ihm. Immer auf Nummer Sicher und vorzugsweise in der Strassenmitte.
Einen Prozess auf Schadenersatz gab es auch. Ohne Erfolg. Der Richter hörte auf die Zeugen, die eindeutig bekundeten, dass das Fahrzeug an/auf dem Müllhaufen war.
Heutzutage hätte er bessere Chancen, denn auf diese Weise ein Fahrzeug zu entsorgen ...
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#6 
aelita2002 постоялец17.09.06 10:22
aelita2002
NEW 17.09.06 10:22 
в ответ Дель Брюкер 16.09.06 18:48
Ich mag sie, aber ich verrate das nicht.
----------
Das sollten Sie aber möglichst schnell ändern und einen guten Bezug zu Ihren Darstellern herstellen. Obwohl ich vermute, dass dieses Problem auch in Ihrem persönlichen Bereich liegen könnte.
#7 
Дель Брюкер знакомое лицо17.09.06 11:19
Дель Брюкер
NEW 17.09.06 11:19 
в ответ aelita2002 17.09.06 10:22
Grundsätzlich mag ich alles, was sich bewegt (oder auch nicht) - nur auf meine Art...
#8 
  Taro2005 старожил17.09.06 11:35
NEW 17.09.06 11:35 
в ответ Дель Брюкер 17.09.06 11:19
То бишь "люблю, но странною любовью"
#9 
Дель Брюкер знакомое лицо17.09.06 11:59
Дель Брюкер
NEW 17.09.06 11:59 
в ответ Taro2005 17.09.06 11:35
Ich meinte, aufmeine Art - nicht auf seltsame oderkomische Art... Darüberhinaus ist "jemanden mögen" noch meilenweit von "jemanden lieben" entfernt...
#10 
  Taro2005 старожил17.09.06 12:02
NEW 17.09.06 12:02 
в ответ Дель Брюкер 17.09.06 11:59, Последний раз изменено 17.09.06 12:05 (Taro2005)
"Darüberhinaus ist "jemanden mögen" noch meilenweit von "jemanden lieben" entfernt... " - О! Interessantes Thema! Lass uns darüber bitte in einem neuen Thema diskutieren. Ich bin übrigens 100 prozentig einverstanden.
#11 
Дель Брюкер знакомое лицо17.09.06 12:15
Дель Брюкер
NEW 17.09.06 12:15 
в ответ Taro2005 17.09.06 12:02
Würdest du bitte das Thema ausformulieren und die Diskussion anregen? Ich bin ein schlechter Organisator für so was... würde aber dir gerne beistehen...
#12 
  Taro2005 старожил17.09.06 12:21
NEW 17.09.06 12:21 
в ответ Дель Брюкер 17.09.06 12:15, Последний раз изменено 17.09.06 12:30 (Taro2005)
Bin in Sachen Organisation noch schlechter.
Aber man könnte das Thema in die Richtung lenken: Unterschied zw. Freunden und Bekannten, z. B. Was ist Freundschaft für die Deutschen? Was ist sie für die Russen? Gibt es da Unterschiede? Denn dieser Punkt war, glaube ich, für alle Auswanderer auf ihrem Integrationsweg ziemlich heikel. Wie viele von uns haben Freundlichkeit nicht selten mit dem Freundschaftswunsch verwechselt und sich danach enttäuscht gefühlt?
P.S. Ich denke, der Unterschied "mögen und lieben" ist ziemlich selbstverständlich, oder? Man braucht darüber nicht großartig diskutieren.
#13 
gadacz Нободы ис перфецт17.09.06 12:39
gadacz
NEW 17.09.06 12:39 
в ответ Taro2005 17.09.06 12:21
Dazu passt auch "gerne haben" - "ich habe dich gern(e)"
Aber wehe jemand sagt: "Du kannst mich mal gerne haben"
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#14 
aelita2002 постоялец17.09.06 13:16
aelita2002
NEW 17.09.06 13:16 
в ответ Дель Брюкер 17.09.06 11:19
Lieber [nick]Дель Брюкер,
ich wollte Sie (persönlich) auf keinen Fall mit meiner Äußerung kränken.
Ich wollte Ihnen nur ein freundliches Feedback auf ihre Geschichten geben, damit Sie als Autor bei Ihrem potenziellen Leser später auch mehr Symphatien gewinnen könnten. Ob Sie meine Meinung zu diesem Thema akzeptieren (werden), überlasse ich Ihnen.
#15 
Дель Брюкер знакомое лицо17.09.06 20:43
Дель Брюкер
NEW 17.09.06 20:43 
в ответ aelita2002 17.09.06 13:16
Liebe Paulina,
Sie haben mich auf keinen Fall gekänkt! Auch die Freundlichkeit Ihres Feedbacks wurde von mir nicht übersehen! Ich sag nur, ich mag meine Protagonisten auf meine Art... dazu geröhrt auch, dass man manche Sachen mit Humor angeht, auch wenn er etwas bitter sein soll... In gewissem Sinne gehöre ich auch zu denen (zu meinen Protagonisten)...
#16 
Катрин ..пишу, снимаю, порчу17.09.06 20:45
Катрин
NEW 17.09.06 20:45 
в ответ gadacz 17.09.06 12:39
Und wo ist der Unterschied zwischen "ich habe dich gern(e)"
und "ich habe dich lieb" ?
Erlebnissuchmaschine www.wonderzeit.de
#17 
gadacz Нободы ис перфецт18.09.06 01:17
gadacz
NEW 18.09.06 01:17 
в ответ Катрин 17.09.06 20:45
Gerne kann man jeden haben, wenn etwas Sympathie da ist. Das ist einfach eine "lockere" Zuneigung. Ich habe dich auch gerne, aber das hat nun mit Liebe nichts zu run. "Du kannst mich mal gern haben" ist meint eher das Gegenteil, obwohl es ja noch nett klingt. Die nächste Steigerung wäre dann das Götz-Zitat.
Lieb hat man jemancen oder etwas, wenn schon eine größere Zuneigung besteht. das kann zu Partnern, Verwandten oder auch der Hund oder Papagei sein.
Liebe ist ja inzwischen zu einem meist missbrauchten Wort geworden.
"Ich liebe dich" geht heutzutage vielen schnell von den Lippen. Ich bin so stockkonservativ (in dieser Beziehung), dass ich noch genau die Personen kenne, denen ich es sagte. Das dauerte dann auch immer ziemlich lange. Außer bei meiner Tochter, sie hat es spontan gehört
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#18