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Ritual

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Дель Брюкер знакомое лицо12.09.06 23:32
Дель Брюкер
12.09.06 23:32 
Alle als Kontingentflüchtlinge in Deutschland aufgenommenen Juden kriegten zunächst eine über drei Monate befristete Aufenthaltserlaubnis. Diese sollte bis zum Ablauf des dritten Monats durch das zuständige Bezirksamt quasi automatisch in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis umgewandelt werden. Erst dann wäre das Leben sicher. Es war aber festzustellen, dass eine Folgerung zu Murphy's Gesetz (Nichts ist so leicht, wie es aussieht) auch hier im Lande gilt.
Das Bezirksamt in Köln-Lindental, dem unser Wohnheim angehörte, wies seine Bewohner darauf hin, dass sie zusätzlich zu allen bereits vorgelegten Unterlagen eine Mitgliedsbescheinigung der Synagogen-Gemeinde Köln einreichen sollten. Es müsse ersichtlich sein, dass man tatsächlich Jude sei. Also nix wie hin. In der Sozialabteilung der Gemeinde musterte eine junge Frau mit rundlichem Gesicht die versammelten Juden(?) ohne wirkliches Interesse ein Paar Sekunden lang. Dann klärte sie sie über den Vorgang auf: "Diejenigen, deren Geburtsurkunden dem Gutachten unserer Frankfurter Experten standhalten, werden hier dem Rabbi vorgeführt, der ihr Judentum vor Ort auf den Prüfstand stellt".
Es vergingen kaum zwei Monate, als wir uns da wieder zusammentrafen. Um die zwanzig mit Frankfurt-Zertifikat ausgestatteten lupenreinen Juden, inklusive mir und meinem Nachbarn Viktor aus dem Wohnheim auf der Arndtstrasse, harrten in einem langen Flur des Gemeindegebäudes auf ihr Schicksal. Die Wartezeit wurde sinnvoll genutzt: Einige blätterten heftig in dicken Büchern mit großen bunten Bildern, um die alten jüdischen Feste und Gebräuche in ihrem Gedächtnis aufzufrischen; andere saßen entlang der Flurwand mit halbgeschlossenen Augen, fast bewegungslos und schienen zu meditieren.
Ich kenne niemanden, der bei dem Vorstellungsgespräch durchfiel. Vielleicht waren alle gut vorbereitet, es konnte aber auch sein, dass unsere Blamage nicht im Sinne des Erfinders gewesen wäre. Der Rabbi war ziemlich nett und bei Bedarf leistete die Frau mit rundlichem Gesicht eine Dolmetscherhilfe.
Plötzlich stellte sich heraus, dass unsere Prüfung auch einen zweiten Teil hatte: Die Männer sollten schriftlich ihre Bereitschaft erklären, dass sie sich binnen eines Jahres einer Beschneidung unterziehen. Der leichtsinnige Viktor versuchte durch die im Brustton der Überzeugung vorgetragene Behauptung durchzukommen, er sei bereits in Russland gründlichst beschnitten worden. Daraufhin meinte die Frau mit rundlichem Gesicht mit einer monotonen Stimme, dass die Beschneidung in Russland nach Informationen der Gemeinde nicht immer nach allen Regeln der Kunst abliefe. Sollte sie also erfolgt sein, müsse ein hiesiger Fachmann, der volles Vertrauen der Gemeinde genieße, sein Gutachten in jedem konkreten Fall abgeben. Der Fachmann wartete bereits im Nebenzimmer, wohin sich Viktor gleich begeben sollte. Aufgrund der neuen Tatsachen musste Viktor leise Zweifel an der Vollkommenheit seines Schnittes anmelden.
Nach Viktor unterschrieben alle frischgebackenen Mitglieder der Gemeinde männlichen Geschlechts die vorgelegte Erklärung. Eine Ausnahme bildeten drei Herren, die über 50 Jahre alt waren: Sie brauchten keine Unterschrift auf dem Papier zu leisten. Auch zu dem im Nebenzimmer wartenden Gutachter hat sie die Frau mit rundlichem Gesicht nicht geschickt. Vielleicht konnte der Gutachter ab einem bestimmten Alter die Güte des Schnittes nicht mehr so gut beurteilen.
Als die Begrüßung der neuen Gemeindemitglieder zum Schluss kam, stellte die Mutter von Viktor eine rhetorische Frage in den Raum. Sie wollte wissen, welche rationale Gründe für eine rituelle Beschneidung von nicht tiefgläubigen erwachsenen Männern sprechen. Zum ersten Mal sah ich, dass die Augen der Frau mit rundlichem Gesicht lebhaft aufleuchteten. "In erster Linie ist das schön", erwiderte sie mit ihrer netten tiefen Stimme.
Langsam aber unaufhaltsam änderte sich die Welt nach diesem Tag. Vertreter Israels und Jassir Arafat brachten das Gaza-Jericho-Abkommen zustande. Die russischen Juden im Wohnheim auf der Arndstrasse in Köln verfeinerten ihre Deutschkenntnisse, suchten nach Gelegenheitsjobs und setzten Kinder in die Welt. Sie dachten, sie dürften sich entspannen. Aber sie befanden sich auf dem Holzweg.
An einem sonnigen Samstag kam die Post. So gesehen ist Deutschland ein erstaunliches Land. Mancher Brief, der hier rumgeschickt wird, ähnelt der Kugel eines Profikillers: Das Ziel wird immer unerwartet und an der empfindlichsten Stelle getroffen. An diesem Samstag stellte das Wohnheim auf der Arndstrasse das Ziel für ein wahres Trommelfeuer dar: Die Synagogen-Gemeinde Köln unterrichtete alle Unterzeichner der damaligen Erklärung, dass es endlich soweit sei. Ein von der Gemeinde beauftragter Londoner Chirurg komme nach Köln, um Worte in Taten umzusetzen.
Das Wahrnehmen dieses Angebots wurde für die Bewohner des Wohnheimes durch eine seltene Anhäufung von Zufällen sehr erschwert. Einige wurden krank. In vornehmen Arztpraxen von Weiden bis Lindental wurden junge Männer gesichtet, die durch Stammeln und Stottern auffielen. Über diese Epidemie, die kerngesunde junge Männer aus Russland befallen hatte, spekulierten zufällige Augenzeugen noch lange Zeit danach.
Unter anderem berichtete man über einen Neurologen aus Köln-Lindental, der einen besonders interessanten Patienten hätte. Der engagierte Mediziner nahm die Krankheitsgeschichte seines Patienten mit nach Hause, um das Ganze in aller Ruhe durchzugehen. Im Hintergrund lief eine Sendung über den bulgarischen Dissidenten Markov auf WDR 5, der vor Jahren in London durch den Stich einer vergifteten Regeschirmspitze umgebracht worden war. Daraufhin schloss der Neurologe aufgrund der festgestellten Symptome die zeitverzögerte Wirkung einer bisher nicht bekannten biologischen Waffe in dem Befund nicht aus.
Einige Unterzeichner erwiesen sich jedoch gegen diese Epidemie als immun. Bei ihnen stellte sich aber plötzlich heraus, dass sie wichtige Vorstellungsgespräche von Rügen bis Garmisch-Partenkirchen hätten. In Scharen verließen sie Köln. Der einzige, der nicht komplett ausgebucht war, war mein Freund Viktor. In der Zwischenzeit sollte er sich mit den Offenbarungen der Tora und des Talmuds gründlich vertraut gemacht haben. Sachkundig informierte er das Ritualkomitee, dass er nur dann komme, wenn der Operateur ein richtiges Steinmesser habe. Sonst sei er nicht sicher, ob die Beschneidung unter Umständen durch eine höhere Instanz anerkannt werde.
Ein Jahr später konnte ich mich auch von dem universalen Charakter einer weiteren Folgerung zu Murphy's Gesetz überzeugen (Jede Lösung bringt neue Probleme). Zu dieser Zeit verloren mehrere ehemalige Bewohner des Heimes auf der Arndtstrasse eineinender aus den Augen; sie wohnten längst zu Miete in verschiedenen Stadtteilen von Köln. An einem sonnigen Samstag fiel mir in der Menschenmenge am Kölner Hauptbahnhof ein Mann durch seinen verstimmten Blick auf. Das war Viktor. Er hatte es sehr eilig und lief einem Zug nach. Ich hörte nur, dass er vor ein Paar Stunden einen weiteren Brief von der Kultusgemeinde erhalten hätte. Der Inhalt: Ein Operateur mit dem von ihm geforderten richtigen Werkzeug sei nur wegen ihm nach Köln unterwegs.
#1 
  barashek местный житель13.09.06 11:13
NEW 13.09.06 11:13 
в ответ Дель Брюкер 12.09.06 23:32
Wieder einer voller Erfolg
Ich erlaube mich nur ein kleines Witz erzählen :
Nach der erste Nacht mit dem Bräutigam, die Mutter von die Braut
fragt ihre Tochter: └und, wie war▓s?⌠
Tochter: └ Mutter, ich habe gewusst, dass Juden sich beschneiden lassen, aber nicht so stark doch!⌠

#2 
моргана фея13.09.06 15:47
моргана
NEW 13.09.06 15:47 
в ответ Дель Брюкер 12.09.06 23:32
Ich hoffe sehr, dass dieses Ritual- deine Erfindung ist?
Am sonsten- Hut ab!
Leicht, flussig und sehr ironisch geschrieben.
Es gibt ein Paar Fehler, was die Grammatik oder Stillistik angeht, ich will über sie aber nicht reden- das können andere Teilnehmer wahrscheinlich besser, wenn du magst.

#3 
Дель Брюкер знакомое лицо13.09.06 15:54
Дель Брюкер
NEW 13.09.06 15:54 
в ответ barashek 13.09.06 11:13
Danke!
-----------
- Doktor, kastrieren Sie mich!
- ???
- Ich heirate eine Jüdin, ich will sie glückklich machen!
- Aber...
- Ohne Wenn und Aber!
- OK...
Nach der OP.... Doktor:
- Ich wollte nur sagen, die männlichen Juden lassen sich normalerweise beschneiden...
- Klar! Das hab ich doch gesagt?
#4 
Дель Брюкер знакомое лицо13.09.06 15:58
Дель Брюкер
NEW 13.09.06 15:58 
в ответ моргана 13.09.06 15:47
Freut mich...
Erfunden wurde hier nicht so viel... Der harte Kern ist reinste Wahrheit!
#5 
моргана фея13.09.06 16:06
моргана
NEW 13.09.06 16:06 
в ответ Дель Брюкер 13.09.06 15:58
В ответ на:
Der harte Kern ist reinste Wahrheit!

Das will ich jetzt genau wissen! solche Tatsachen nimmt man doch gerne unter die Lupe.
#6 
Дель Брюкер знакомое лицо13.09.06 16:12
Дель Брюкер
NEW 13.09.06 16:12 
в ответ моргана 13.09.06 16:06
Oh! Auch dein Deutsch ist Klasse! Aber in meinem Falle wird keine Lupe notwendig sein!
#7 
моргана фея13.09.06 16:14
моргана
NEW 13.09.06 16:14 
в ответ Дель Брюкер 13.09.06 16:12
Witzig und seeeehr bescheiden!

Habe nichts anderes erwartet.
#8 
  Taro2005 старожил13.09.06 19:33
NEW 13.09.06 19:33 
в ответ моргана 13.09.06 16:06, Последний раз изменено 13.09.06 19:38 (Taro2005)
Liebe Lena! Spaß beiseite! Diese Geschichte ist wirklich wahr! Ich musste an manchen Stellen richtig auflachen, weil alles genau mit dem übereinstimmte, was sich auch in unserer Gemeinde zugetragen hat.
#9 
  Taro2005 старожил13.09.06 19:37
NEW 13.09.06 19:37 
в ответ Дель Брюкер 13.09.06 16:12, Последний раз изменено 13.09.06 19:42 (Taro2005)
Mir fehlen einfach die Worte! Klasse! Super! Gehört zweifellos in einen Verlag. Schade, dass ich in keinem arbeite.
Hut ab!
Erlaub mir nur einen Tropfen Wermut im Freudenbecher: Der Text erinnert sehr an Kaminer, in "Russendisko" gab es eine ähnliche Erzähl
ung. Irgendwie musst Du dich von ihm abheben, sonst stellt er Dich in den Schatten. Ansonsten - viel Erfolg und weiter so!
#10 
Дель Брюкер знакомое лицо13.09.06 21:02
Дель Брюкер
NEW 13.09.06 21:02 
в ответ Taro2005 13.09.06 19:37
Danke!
Du machts mir Mut... Ich heb mich von dem Kerl langsam ab: Die nächste Geschichte wird heißen "Plusquamperfekt". Hat der Typ was darüber geschrieben?
#11 
  Taro2005 старожил13.09.06 21:12
NEW 13.09.06 21:12 
в ответ Дель Брюкер 13.09.06 21:02
Du bist mir doch nicht böse, dass ich Dich mit ihm vergleiche, oder?
So genau hab ich Kaminer auch nicht gelesen. Also wenn Du mir seine Geschichte servierst und behauptest, es sei Deine, würde ich es Dir abnehmen.
#12 
  Larisonka постоялец13.09.06 23:44
NEW 13.09.06 23:44 
в ответ Дель Брюкер 13.09.06 21:02
ich bin nicht sicher, dass Kaminer sich mit diesem Thema beschäftigte, aber im 2.Buch von Bastian Sick gibt`s schon was über Plusquamperfekt...
#13 
Дель Брюкер знакомое лицо14.09.06 09:10
Дель Брюкер
NEW 14.09.06 09:10 
в ответ Larisonka 13.09.06 23:44
Wannsinn! Keine freien Themen mehr!.. Aber ich beiße mich durch...
#14 
gadacz Нободы ис перфецт14.09.06 13:56
gadacz
NEW 14.09.06 13:56 
в ответ Дель Брюкер 14.09.06 09:10
Der Anfang war ja schon sehr aufschlussreich.
Ich denke,die Problematik der Zuwanderer und der Kampf mit deutschen Behörden, Arbeitgebern, Mitmenschen bietet ein breites Feld.
Die Deutschen bekommen so einen Einblick von kompetenter Seite und die Russen finden sich wieder.
Ist natürlich delikat, denn ich kann mir vorstellen, dass erfreuliche Episoden eher selten sind. Das kann leicht als Nörgelei ausgelegt werden. Aber die Realität ist nun mal nicht sehr erfreulich.
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#15 
Дель Брюкер знакомое лицо14.09.06 14:28
Дель Брюкер
NEW 14.09.06 14:28 
в ответ gadacz 14.09.06 13:56, Последний раз изменено 14.09.06 14:57 (Дель Брюкер)
Tja... Was ist Nörgelei... Es geht auch (eher?) um den Kampf mit sich selbst... und Mentalitätsunterschiede, die sich immer wieder offenbaren, wenn die Russen und Deutschen zusammenkommen.
#16 
gadacz Нободы ис перфецт14.09.06 15:06
gadacz
NEW 14.09.06 15:06 
в ответ Дель Брюкер 14.09.06 14:28, Последний раз изменено 15.09.06 12:55 (gadacz)
In Antwort auf:
Es geht auch um den Kampf mit sich selbst

Das ist natürlich auch ein sehr interessanter Aspekt. Schließlich werden eine Menge Werte aufgegeben, z.B. Heimat, Freunde, Familie, auch wenn die immer im Herzen bleiben. Doch mit diesen Trennungen muss man fertig werden. Immer wieder sehe ich die unterschiedlichen Reaktionen. Manche schwören der Vergangenheit total ab und nichts zieht sie zurück. Andere leiden ewig und würden am liebsten die Rückreise antreten. Irgend etwas ist auch dazwischen zu finden.
Ich denke aber, dass gerade dieser innere Kampf eine Menge Stoff birgt. Doch Emotionen zu beschreiben ist schwieriger als Tatsachen zu schildern.
In Antwort auf:
....Mentalitätsunterschiede, die sich an immer wieder offenbaren....

Ein heikles Thema. Klar, die Unterschiede sind prägnant. Ich habe längere Zeit im Ausland gelebt und immer versucht, die Mentalität zu begreifen und mich ihr anzupassen. Wer es nicht versuchen will, sollte lieber nicht einen so weiten Schrit wagen.
Was nützt mir die Aufregung, wenn eine Verabredung in xxx nicht auf die Minute eitrifft? Im Orient ist man noch pünktlich, wenn man am selben Tag kommt.
Aber gerade die Mentalitätsunterschiede (incl. der daraus bedingten Sitten und Praktiken bzw. umgekehrt) wären ein Thema für einen separaten Thread. Das ist sinnvoller, als Charaktereigenschaften russischer Frauen zu ventilieren.
DEUTSCHsprachiger €uropäer mit preußischem Migrationshintergrund - service.gadacz.info
#17 
  Larisonka постоялец14.09.06 16:39
NEW 14.09.06 16:39 
в ответ Дель Брюкер 14.09.06 14:28
ich kenne ein passendes Thema : unsere Vorstellungen und Realität . Wie verschieden sie aussehen...
ich bin nach Deutschland gekommen und war schon am ersten Tag sehr überrascht worden, weil ich mir sogar im Albtraum nicht vorstellen konnte, dass Deutsche so unpünktlich sein können...
Was nützt mir die Aufregung, wenn eine Verabredung in Deutschland nicht auf die Minute eitrifft? Nicht nur im Orient ist man noch pünktlich, wenn man am selben Tag kommt--------
#18 
Дель Брюкер знакомое лицо14.09.06 16:52
Дель Брюкер
NEW 14.09.06 16:52 
в ответ Larisonka 14.09.06 16:39
Eine Geschichte, in der das Thema am Rande angepackt ist, kommt noch... Diese wird heißen "Isaak". Warte ab...
#19 
  Taro2005 старожил14.09.06 16:54
NEW 14.09.06 16:54 
в ответ gadacz 14.09.06 15:06
Die Mentalitätsunterschiede sind der heikelste und der schmerzhafteste Punkt schlechthin. Eine richtige Wundstelle. Ich bin eher pessimistisch, was dieses Thema angeht: Man kann dem anderen keine femde Mentalität beibringen, man kann Mentalitäten nicht erfassen, man muss sie spüren, und das Gespür ist wohl kaum erlernbar. IMHO
#20 
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